#beziehungsweise: jüdisch und christlich – näher als du denkst!
Orientalische Sommerhitze lag über Jerusalem, als die Stadt verwüstet wurde und der Tempel verbrannt: das erste Mal 587 v.Chr. durch die babylonische Armee, später noch einmal, im Jahr 70 n. Chr. durch die Römer. Die Klagelieder in unserer Bibel lassen das Grauen von damals ahnen. Und zugleich machen sie deutlich: Selbst mit diesem Horror vor Augen waren da Menschen, die an Gott festhielten, trotz allem. Sie bekannten: Wir alle sind schuldig geworden, wir alle sind mitverantwortlich dafür, dass Schwache entwürdigt und Mächtige hofiert wurden, dass persönliche Bequemlichkeit mehr zählte als Gottes gute Weisung, die Leben in Würde für Alle will.
Die Überlebenden damals haben der Versuchung widerstanden, sich in die Opferrolle zu flüchten und die Schuld an ihrem Elend einfach anderen zu geben. Sie wussten: Auch in dem, was nun passiert ist, haben wir es mit Gott zu tun. Ja, sein Gericht ist furchtbar – und doch, er zeigt uns damit auch: Ihr seid mir nicht egal. Er hält an uns fest, auch durch die Trümmer hindurch. „Seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu – groß ist deine Treue“ (Klgd. 3,25). Bis heute ist der 9. Aw im jüdischen Kalender (dieses Jahr: der 27. Juli) ein Fasten- und Trauertag. Er drückt aus: Nur, wenn Schweres nicht verdrängt, sondern erinnert wird, nur wenn Schuld erkannt und bekannt wird, kann ein Neuanfang gelingen.
Viele Jahrhunderte lang hat die Kirche die Zerstörung des jüdischen Tempels als „Beweis“ dafür gedeutet, dass Gott sein Volk verstoßen habe, weil es in Jesus nicht den Erlöser erkennt. Bequem war das: hämisch auf andere zu zeigen, ihr Unglück zur eigenen Selbstbestätigung zu gebrauchen und sich selbst auf der Seite der Sieger zu fühlen. So schlug die Verachtung der jüdischen Geschwister tiefe Wurzeln, gerade im „christlichen“ Abendland. Viel zu lange hat es gedauert, bis Christinnen und Christen begannen umzukehren. Statt über Juden zu reden, begann das Gespräch mit ihnen. Endlich! Die Entdeckung wuchs: Es gibt so viel Lohnendes in diesem Gespräch zu lernen!
Am 10. Sonntag nach Trinitatis, im Hochsommer also, etwa zur Zeit des 9. Aw, bedenken und feiern wir darum in unseren Gottesdiensten ganz besonders, was uns (trotz vieler Unterschiede) mit dem jüdischen Volk verbindet – allem voran der lebendige Gott selbst: „Seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu – groß ist deine Treue!“
Manuel Goldmann